Renate Puvogel
Übergänge
Man möchte meinen, es sei einerlei, in welchem der Seitenkabinette des Ludwig Forums Bea Otto ihre mehrteilige Installation einrichten konnte, ähneln sich die Räume doch in ihrer Atmosphäre durch annähernd gleiche Dimensionen, in Höhe und weißem Anstrich; Stützkonstruktionen mit Pfeilern und Verstrebungen betonen allenthalben den industriellen Charakter des gesamten Baus. Realiter jedoch kommt der ihr zugewiesene Raum Bea Ottos Intention in idealer Weise entgegen, denn es handelt sich um die Zone des Haupteingangs der ehemaligen Schirmfabrik. Bea Otto reagiert mit ihrer Arbeit auf den jeweiligen Ort, sie hinterfragt seine Geschichte, seine architektonische Struktur, den Raum als gestaltete Entität und gestaltbare Wesenheit und nimmt sich der Grenzen eines Raumes an, die das Innere vom Außen trennt. Gerade bei diesem Raum nun spielt, wie die Ausführungen zeigen werden, das Moment der Beziehung von Außen und Innen eine außergewöhnliche Rolle, und zwar nicht nur in Anbetracht der unterschiedlichen Nutzung einst und heute, sondern weil es sich auch architektonisch niederschlägt. Da das Interesse der Künstlerin insbesondere den Kriterien Raum, Ort und Zeit gilt, finden sich diese in ihrer vielteiligen Installation in mannigfaltiger Weise, in der Ambivalenz Innenraum – Außenraum, Hülle und Kern, Fülle und Leere, Geschichte und Gegenwart, gebauter und gelebter Raum. Dabei greift Bea Otto die von der Stadt immer wieder diskutierte Problematik auf, welche darin besteht, dass das Ludwig Forum von der Straße aus, einer Einfallstraße zum Zentrum hin, kaum einzusehen ist und daher wenig zum Besuch einlädt. Eine sichtbare Eingangszone könnte die Schwellenangst überwinden helfen, gerade auch für ein Publikum, das einer kulturellen Einrichtung wie dem Forum fremd gegenübersteht. Dies betrifft in diesem Falle ausgerechnet die Bewohner des umliegenden Viertels.
Als erste Maßnahme hat Bea Otto nun den ehemaligen Fabrikeingang nicht etwa öffnen lassen, wie zu erwarten wäre, sondern ihn demonstrativ mit einer Bretterwand verbarrikadiert. Bei dem Verschlag, zusammengebaut aus transformiertem Material aus dem Fundus des Forums, ist die Konstruktionsseite mit ihren Verstrebungen sichtbar der Straßenseite zugekehrt, dadurch ist das Innen und Außen vertauscht und das gemeinhin Verborgene offen gelegt. Des Weiteren hat sie eine zweite ehemalige Eingangsnische an der langen, unwirtlichen Straßenfront mit einem Foto von einem schräg verlaufenden Mauerdetail ausgefüllt. Schon im Vorfeld der Ausstellung hatte sie thematisch auf diese Orte des Übergangs aufmerksam gemacht, und zwar anhand von zwei merkwürdigen, ja, absurden Großfotos: Das eine zeigte einen grauen Vorhang, das andere die Rückseite eines abgerissenen Plakats. Mit diesen irritierenden Eingriffen konterkariert sie zu Erwartendes. Es ist nicht von ungefähr, dass sie mit Letzterem an die Nouveaux Réalistes erinnert, die sich um 1960 mit ihren Plakataktionen in offensiver Weise kritisch in die Öffentlichkeit begaben.
Wie nebenbei machen die Eingriffe an den ehemaligen Eingängen überdies auf die architektonische Besonderheit aufmerksam, dass das Niveau der Ausstellungsebene keineswegs dem Straßenniveau entspricht, sondern annähernd auf der Höhe des auskragenden Vordachs über dem ehemaligen zentralen Eingang liegt. Demzufolge befindet sich der Ausstellungsraum von Bea Otto nicht nur jenseits des Mauerriegels, sondern zudem auch darüber beziehungsweise in einer labilen Zone des Übergangs. Denn in diesem Bereich muss sich einst die Treppe befunden haben, die den Zugang von der Straße in die Verwaltung der Fabrik und auf das Niveau der Fabrikation ermöglicht hatte; es ist heute noch das der zentralen, weiten Halle und der Seitenkabinette. Dieses nur in der Vorstellung rekonstruierbare Moment eines Gefälles bleibt auch im Innenraum anwesend, und zwar in der Weise, wie generell jeder Eingriff ambivalent, ja, sogar vielseitig interpretierbar ist. Zunächst einmal setzt Bea Otto hier im Raum zum Gegenangriff auf ihre Außeninstallation an. Sie lässt das Rundfenster, das für die davor liegenden Ausstellungen verschlossen worden war, öffnen und die hohen Fußleisten und die dahinter liegenden Bodenabschlüsse entfernen. Dadurch wird die Hilfskonstruktion vorgesetzter Rigipswände sichtbar und in der Tiefe die ursprüngliche Mauer. Diese ist nun sozusagen von beiden Seiten zugestellt. Aber der Raum, in den auf Grund der fehlenden Leisten sogar Licht dringt, dehnt sich in Richtung Industriebau und scheinbar sogar nach außen aus. Er gerät ins Schwimmen, in einen Zwischenzustand von Museum und Fabrik, auch von Realität und Täuschung. Bea Ottos Maßnahmen haben demnach mehr Gemeinsamkeiten mit den Eingriffen eines Michael Asher als mit Interventionen von Künstlern der 1980er-Jahre, denn sie sind konzeptuell, verschieben den Kontext und hinterfragen die Rolle eines White Cube für das Ausstellungswesen, nicht ausgenommen das Verhältnis zur industriellen Nutzung eines Raumes. Der real wahrnehmbare weite, lichte Raum wird zum Ort versammelter Dinge und geistiger Vorstellungen.
Derlei Gedanken werden insbesondere genährt durch eine quadratische insulare Plattform, die, einen der beiden Pfeiler umschließend, knapp über dem Fußboden schwebt. Als zweite Ebene greift die Platte die Frage nach dem erhöhten Ausstellungsniveau nochmals auf und behauptet sich als unangreifbar, indem sie die Zuordnungen zu reiner Skulptur einerseits, nützlichem Architekturglied andererseits unterläuft. Wie lässt sich die Platte deuten: als Probestück für einen Fußbodenbelag? Als Podest? Schutzplatte? Rückzugsort? Schwarzes Quadrat? Oder ganz anders als rettendes Floß? Vom vorhandenen dunkelbraunen Museumsboden aus feinem Tropenholz rücken die simplen, mit schwarzer Farbe gestrichenen Schalbretter jedenfalls ab. Rüde im Material ist das Quadrat sehr präzise dergestalt geschliffen, dass es sich zu einer Seite hin verjüngt. Derartig labil in der Balance gehalten, werden auch die angebotenen Assoziationen nicht eingelöst, stattdessen taucht in Gedanken sogar die Schräge der ehemaligen Treppe wieder auf. Der Betrachter bleibt irritiert zurück und lässt seinen Blick von dem Feld aus abwägend in den gesamten Raum schweifen. Da Bea Otto ihn klug kalkulierend nahezu leer belässt, tritt ihr Konzept sparsamer, ebenso radikaler wie subtiler Setzungen umso deutlicher ans Licht.
Auf jene aus der Raummitte gerückte, schwebende, hölzerne Platte antwortet die gebrauchte grünliche Isomatte am Boden in der dunkelsten Raumecke. In ihrer flachen geometrischen Form zwar vergleichbar, ist hier der Maßstab doch stärker am Menschen als an der Architektur orientiert, ohne dass auch dies Stabilität am Ort garantiert. Lediglich eine vorübergehende Bleibe, ein Not- oder Durchgangslager scheint die provisorische Lagerstätte zu versprechen. So lapidar und sogar abgegriffen ihr Material auch ist, positioniert ist sie sehr dezidiert. Bea Otto arbeitet gerne mit gegensätzlichen Momenten oder Eigenschaften wie diesen, denn dadurch entgeht sie eindeutigen Zuschreibungen und hält eine Maßnahme in einem spannenden, ambivalenten Zustand, der die Aufmerksamkeit steigert. Durch sorgfältiges Bearbeiten und genaues Platzieren erreicht gerade das Alltägliche, Provisorische eine Ästhetik geistiger Schärfe. In gehörigem Abstand von der Matte findet sich ein Langlaufskistock schräg in eine Bodenritze gesteckt; er markiert einen Punkt, eine Stelle, in Bea Ottos Sinne die Annäherung an einen Ort in der Art, wie das Ready Made als Fremdkörper gänzlich anderer Nutzung in den Kunstraum transferiert wurde und unterschiedliche Sphären miteinander verbindet. So bieten es etymologisch die althochdeutschen Bedeutungen des Begriffes ‚Ort‘ an. Seinerzeit wurde unter Ort nicht nur der Platz als geografisch genaue Position, als geometrischer Ort verstanden, sondern auch die Klingenspitze einer Hieb- und Stichwaffe, womit das Objekt dem Ort einen Sinn zu geben scheint. Das Motiv ist also keineswegs zufällig gewählt. Aber eine Verunsicherung bleibt; obgleich der Stab fein gearbeitet und genau positioniert ist, verheißt er nichts Verlässliches, nicht für die Wahrnehmung, für das ‚Ding an sich‘ erst recht nicht.
Der Betrachter meint, in Blickverlängerung des Skistocks an der weißen Wand in Augenhöhe eine kleine dunkle Kamera ausmachen zu können. Doch näher herangetreten entpuppt sich die schwarze Figur lediglich als Loch, als ein im Umriss einer Kamera aus der Wand herausgesägtes Segment. Es bleibt unentschieden, wohin die ‚virtuelle‘ Kamera ausgerichtet ist, auf die dunkle Tiefe hin oder in den hellen Raum hinein. Auch dieser Eingriff beschreibt eine Situation des Übergangs, hier die Schwelle vom genutzten Raum zum verstellten, von der realen Räumlichkeit zur imaginierten. Mit der Kamera als Sujet schlägt Bea Otto einen Bogen zu dem Videostill im Vorraum der Ausstellung. Dort wirft ein Beamer ein Foto an die Wand, das eine Installation an einem gänzlich anderen Ort zeigt. Die Richtung der Projektion bindet sie zwar eng an die Ausstellung, das Foto hingegen beruht auf Bea Ottos Beitrag zu einer Gruppenausstellung in einem Aachener Schrebergarten. Jene ist einer bedeutsamen Initiative der Aachener Galerie van der Milwe im Jahre 2008 zu verdanken, genau zu dem Zeitpunkt, als das Gartenareal einem Parkplatz für das neu zu bauende Tivoli-Stadion weichen musste. Bea Otto wählte für ihre Installation landauswärts ein Gartenhaus aus, von dem nur noch die recht massiven, weiß getünchten Wände vom ehemals lebendigen Treiben zeugten. Die jetzige Projektion verkehrt die ursprüngliche Situation, indem sie sozusagen den Außenraum verdoppelt in den Innenraum holt. Damals platzierte sie ein Diakarussell so in den ruinösen Innenraum des Gartenhäuschens, dass der Strahl durch einen leeren Fensterrahmen hindurch nach draußen führte, Naturbilder ins Freie, d. h. ins Unsichtbare projizierend. Begab sich jemand in den Lichtstrahl, wurde die vergangene blühende Lebensidylle auf seinem Körper sichtbar. Unmissverständlich gelang Bea Otto in ihrer so einfachen wie eindringlichen Inszenierung ein Sinnbild für das Opfer eines funktionierenden sozialen Gefüges zugunsten eines kommerziell erfolgversprechenden Baus. Die Zukunft allerdings sollte dem bald Hohn sprechen. Hier im Forum wird der Fokus auf andere Bedeutungsebenen gelenkt, nämlich einerseits selbstreflexiv auf die einer Projektion von einer Projektion, andererseits auf die des Fensters, der Rahmung. Der Betrachter blickt auf das Diakarussell, das vor einer halb abgerissenen Wand steht; sein scharfer Lichtstrahl ist wie eine Waffe auf ihn gerichtet, er gerät zwischen zwei Lichtquellen, deren eine mittlerweile erloschen ist. Gegenläufige Blickrichtungen verwirren die Orientierung, verweisen auf Verwerfungen zwischen dem Innen und Außen, dem Hier und Dort. Nicht zuletzt geht es auch um eine Gewichtung zwischen Verfall und Erhalt. Der Gegensatz zwischen der trostlosen Situation zum Zeitpunkt, als das Bild entstand, und dem gegenwärtigen cleanen Museumsambiente wird schmerzlich fühlbar.
Der Rahmen als solcher, hier der immaterielle des immateriellen Bildes an der Wand, kennzeichnet ja eo ipso eine Grenzsituation. Er fokussiert den Blick auf einen Ausschnitt und er gewährleistet den Übergang von einer Realitätszone in eine andere. Bea Otto greift das Motiv des Rahmens aus dem Gartenhaus und der Projektion nochmals auf, indem sie den Betrachter, der sich von der Projektion aus wieder in den Ausstellungsraum begibt, quasi über eine Schwelle führt. Diese besteht aus einem metallenen Bauzaun, von dem allerdings fast nur das äußere stabile Gestänge erhalten blieb. In seinem abgetakelten Zustand ist er selbstredend weder im industriellen Bereich noch im musealen von Nutzen. Zum bloßen Rahmen reduziert, entbehrt das Gitter obendrein jede Chance, als Barriere etwas schützen oder abgrenzen zu können, statt dessen lenkt es den Blick des Besuchers und macht ihn neugierig auf die Inszenierung. Damit schließt sich der Kreis. Bea Otto wiederholt im Zaun die geometrische Form und gibt mit der leeren Mitte auch ein Echo auf die negative Figur der Kamera. Es zeigt sich, dass immer ein Teil der Ausstellung auf ein anderes verweist und sich ein Geflecht zentraler Themenstellungen ergibt. Diese Strategie formaler, mediärer und inhaltlicher Verknüpfungen durchzieht das gesamte Werk von Bea Otto. Die Situation im Ludwig Forum Aachen kann für ihre Argumentation nicht anders als nahezu ideal eingestuft werden und für den Besucher gilt: Seit der Ausstellung von Bea Otto begreift man die Räume des Ludwig Forums von Grund auf neu.