Sabine Maria Schmidt

Die nur 43 Kilogramm schwere Landekapsel trat kurz vor 2.00 Uhr Ortszeit (11.00 UHR MEZ) in die Atmosphäre ein und raste wie ein weithin sichtbarer Feuerball auf die Erde zu. Nach der Landung suchte ein Helikopter die kleine Kapsel in dem stockdunklen Wüstengelände. Die Proben sollen nach ihrer Bergung zum NASA-Labor nach Houston in Texas geflogen werden, wo bereits am Montag die wissenschaftliche Auswertung beginnen soll. “Stardust” kreuzte in den vergangenen sieben Jahren rund 4,6 Milliarden Kilometer durch unser Sonnensystem. Der eingesammelte Staub vom Kometen Wild 2 enthält nach Angaben der US-Raumfahrtbehörde die mehr als 4,5 Milliarden Jahre alten Grundbausteine, aus denen sich unser Solarsystem entwickelt hat.
(http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltraum/0,1518,395381,00.html)

Eine der praktischsten Erziehungsmaximen, die meine Kindheit bestimmt haben: Iß nicht mit offenem Mund. (Colette)

Raum, der an Orten ruht

Nahezu programmatisch beginnt der vorliegende Katalog mit einer Fotografie einer verschneiten Hausfassade. Sie zeigt eine von Platten rhythmisierte vertikale Struktur, die von einem Fenster und einer Holztür unterbrochen wird. Aus dem Fenster luken drei Zimmerpalmen hervor. Das an der Tür angebrachte Schloss wirkt improvisiert, überhaupt erscheint die durchnässte Holztür ein wenig fehl am Platze, wie von innen nach außen gerückt. Es findet sich nämlich eine weitere Eingangszone am linken Rand mit einem kabinenartigen Vorbau. Auf dessen Dach befindet sich eine wie von Natur geformte Schneeskulptur. Das Foto ist schön und faszinierend und versammelt in sich eine Grammatik, die die gesamte künstlerische Arbeit von Bea Otto umreißen könnte: das Spiel mit architektonischen Baumaterialien, der Baustellencharakter vernachlässigter Details, der Gegensatz von Rahmung und Fläche, Durchbruch und Öffnung.
Es lohnt sich das Foto, das während des Oslo-Aufenthaltes entstanden ist, mit der Aufnahme der Installation “Anclote” zu vergleichen, die 2004 im Rahmen einer Ausstellung im Schloß Ringenberg entstanden ist. Ich stehe zunächst vor der Installation wie vor einem Bild. Nicht nur die Komposition des “Eingangsbildes” ist mit dem Foto eng verwandt. Drei Öffnungen bzw. Eingänge bieten sich dem Betrachter. Der linke wird von einer Paneelenwand verschlossen, der rechte führt einen Treppengang hinunter, in der Mitte öffnet sich unter einem blauen Torbogen ein Treppenaufgang und führt zu einem hell erstrahlenden Lochfenster. Dessen Umfang und Fläche ist als Orientierungs- bzw. Standpunkt in einem mintgrünen-Stein-imitierenden Muster wiedergegeben, das ebenso von einem hellen weißen Kranz umrahmt ist und sich als “Standpunkt” einer räumlichen Übersetzung einer Bildperspektive anbietet. Das arrangierte Teppichobjekt wirkt wie ein “Meeting Point” und zentriert nicht nur die Besucher, sondern auch die Raumstrukturen. Räume ins Flächige zu klappen und umgekehrt, flächige Strukturen ins Räumliche zu übertragen, gehören zu den Merkmalen der Arbeiten Ottos.

In der Rauminstallation “Anclote” finden wir eine mehrteilige, gegliederte Holzpaneele als Found-Footage, die der Atmosphäre des Schlosses eine zeitgenössische, bundesdeutsche Note gibt. Beide Seiten der eingezogenen Wand sind Fremdkörper im Umraum. Die rückseitige Fotolandschaft kommuniziert mit dem Außen, die Holzpaneele mit der Innenarchitektur. Beide stellen Formen und Fassungen des “Eingeräumtseins” vor. In vielen Arbeiten von Bea Otto erscheinen die Gegenstände wie stille Betrachter, die sich gegenseitig beobachten, ja in einen Dialog treten und uns Besucher außen vor lassen. Die Fotografie spielt als Möglichkeit des Zitats eine wichtige Rolle. Die dschungelartige Seenlandschaft schafft ein Stimmungsbild, das wiederum an die Tradition der Fototapete erinnert; die Fototapete wiederum an die Tradition des illusionistischen Wandbildes. Illusionistische Räume vermengen sich mit imaginierten und den realen Umräumen, die zu Rahmen von Raumkonstruktionen werden.

Das eingangs erwähnte Foto der Hausfassade konfrontiert mich zugleich mit einer gänzlich anderen Problematik: der Dialektik von Draußen und Drinnen, von der Gaston Bachelard in seiner “Poetik des Raumes” schrieb.(*1) Ohne dass man es merkt, entsteht nämlich aus dieser Dialektik eine Basis für viele andere Bilder, die z.B. sämtliche Gedanken des Positiven und Negativen beherrschen. So denkt der Philosoph, schreibt Bachelard, wenn er an Drinnen und Draußen denkt, an Sein und Nichtsein, der Theologe an Diesseits und Jenseits, fast alles lässt sich begründen aus diesem Widerspruch, sogar das Unendliche. Darin will man das Sein fixieren. Doch wie geschieht das? Indem man das Sein in Situationen versetzt, versucht man es festzuhalten. Oder anders ausgedrückt: man versucht das Sein zu fixieren, indem man es mit einem Da-Sein konfrontiert, das einen Ort voraussetzt.

“Draußen” und “Drinnen” klingt zudem wie eine Art formale Opposition. Schnell werden wir aber spüren, dass beide Begriffe nicht gleichwertig sind und kaum in einer symmetrischen Position zueinander stehen. Dass das Drinnen konkret, das Draußen weiträumig zu sein scheint, ist eine Erfahrung, die in den Installationen von Bea Otto ins Spannungsfeld rückt. Überhaupt bleibt das Draußen eine abstrakte Konstruktion. Denn selbst wenn wir an einem “Davor” stehen (wie z.B. vor der Hausfassade), ist das Drinnen ein Moment des Draußen, da die Binnenräume unser Erleben von Außenräumen prägen.

Die den Gegenständen zugeschriebenen Materialien werden von Bea Otto vermischt, Innenräume nach außen und Außenräume nach innen geholt. Als wichtigste Elemente erweisen sich dabei bildnerische Zitate und das Loch. In ihrer jüngsten Installation in der Galerie Ruzicska/Weiss fanden sich die Besucher in einem fast fahrstuhlartig wirkenden eingebauten Zwischenraum wieder, der mit silbernem Dämmstoffmaterial ausgeschlagen war. An zwei Stellen befanden sich milchige Einlassungen wie Glassteine, die Licht aus dem Außenraum und dem Nebenraum der Galerie einließen. Die Materialien, die Bea Otto benutzt, stehen oft für Improvisiertheit (Styropor, Spanplatte, Dachlatte etc…). Diese dienen weniger einer Anti-Ästhetisierung, denn dafür, den Konstruktionen ein mobiles und temporäres Moment zu überlassen. Diese Improvisiertheit unterstützt die Idee eines transitorischen Ortes, der selber in Bewegung bleibt.

“Man müsse nur ein Loch machen und schon habe man es”, äußerte einmal Henry Moore lakonisch, als er begann, die geschlossene Kernplastik zu öffnen und den Umraum in die Skulptur einzubeziehen. Der rein skulpturalen Geste ist bei Bea Otto aber noch eine gänzlich andere Ebene, nämlich eine erzählerische, inne. Denn nicht zuletzt sind die Löcher meist an Stellen angebracht, an denen sie gar nicht einsehbar sind und die damit umso mehr die Phantasie beflügeln. Zugleich erscheinen die Durchbrüche wie Grundbausteine der Leere. “Die Umsprünge von nah zu fern, weit und eng, fremd und vertraut, real und künstlich beschäftigen mich. It’s a strange world.”, äußerte Bea Otto in einem Gespräch.

Es interessiere sie, Orte zu schaffen, die zugleich hinterfragen, was ein Ort überhaupt ist. Heidegger hat in seiner gern zitierten Schrift “Bauen, Wohnen, Denken”(*2) über die Entstehung von Orten und Räumen reflektiert und anhand der Heidelberger Brücke erklärt, wie ein weit fließendes Ufergebiet zu einem Ort wird. Eine Brücke verbindet nicht nur zwei gegenüberliegende Ufer miteinander, sondern definiert erst den Ort. Dieser ist nicht schon vor der Brücke vorhanden, sondern wird erst durch diese zu einem Ort. Der Raum wird erst durch einen speziellen Platz, durch Abgrenzung, Eingrenzung oder eine besondere Markierung verortet.

Raum ist das Drinnen und Draußen. Das Loch ist ein Leitmotiv in der Arbeit von Bea Otto, das der Begegnung von Drinnen und Draußen einen Ort gibt. Die Künstlerin hat zudem verschiedene Strategien geschaffen, mit minimalen Objekten, Wandeinbauten kleine Platzgestaltungen oder gar inszenierte (Kultur-) Landschaften zu schaffen. Oft verschiebt sie dabei die Grenzen, schafft Rahmungen und Markierungen, die etwas zitieren, das eigentlich anderen Orten zugehört. Das Moment der “De-Platzierung” verwandelt sie in eine Strategie, die auch für ein Sampling der verschiedenen künstlerischen Genres brauchbar ist.

Besonders spannend ist, dass Bea Otto Orte als transitorische Räume versteht. Räume zu durchschreiten, hat mit Begreifen zu tun. Wir sehen mit unseren Beinen und tragen die durchschrittenen Räume immer mit uns. Die Tür ist ein besonders symbolträchtiges Motiv des Transitorischen. “Wie viele Träumereien müssten im Zusammenhang mit der einfachen Vorstellung der Tür untersucht werden. Die Tür! Sie ist ein ganzer Kosmos des Halb- offenen – zum mindesten ist sie darin das Leitbild, der eigentliche Ursprung einer Träumerei, in der sich Wünsche und Versuchungen ansammeln, die Versuchung, das Sein in seinen Untergründen zu erschließen, der Wunsch alle verschlossenen Wesen zu erobern. Die Tür schematisiert zwei starke Möglichkeiten, die zwei Typen der Träumerei säuberlich voneinander getrennt zu halten. Manchmal ist sie fest verschlossen, verriegelt, mit einem Vorhängeschloß versehen. Manchmal ist sie offen, das heißt weit offen. […] Die Angeln sind gut geölt. Dann zeichnet sich ein Schicksal ab.”(*3)

1996 entstand für einen Rundgang an der Kunstakademie in Düsseldorf eine großartig absurde Skulptur. Die offen stehende Tür einer Wandnische wurde von Bea Otto von einem rechteckigen, weißen Holzgerüst eingefasst, das einer Minimal-Skulptur à la Sol LeWitt ähnelte und den Proportionen einer Telefonzelle entsprach. Respektierte man die markierten Einfassungen, war der Innenraum der Nische beim Öffnen der Skulptur verschlossen und der Innenraum zu einem Außenraum geworden. Die geöffnete Tür wiederum war auf einen außerhalb liegenden Umraum bezogen, der nichts mehr einfasste.

Bea Otto setzt der Unermesslichkeit des Raumes die Geometrie eines dreidimensionalen Bildes entgegen, das wandelbar ist. Doch ist ein Ort nicht nur in der Geometrie erfassbar. Es ist auch die Erinnerung, die Gegenstände zu Orten macht. Eine geflexte Spaltspur verwandelt einen Betonboden in ein Spielfeld, eine Rahmenmarkierung über einer bräunlichen Fläche schafft eine Panoramalandschaft, eine Wolldecke ein Picknickfeld. Dass sich die Orte zugleich immer wieder auflösen, formuliert auch “Durchgang oder Bleibe”. Der weiße vorgelagerte Vorbau lehnt wie ein gleißend-blendender Schneeraum vor der Wand eines Raumes. Zwei orangene Sitzmatten leuchten vom Fußboden wie die “Schneeskulptur” auf dem Dach der fotografierten Hausfassade. Zwei Leerstellen eines Leibes, den Merleau-Ponty als Inbegriff für den Ort der Fundierung des Menschen in der Welt definiert hat. Der Raum, der uns umgibt, scheint vielmehr Folge unserer leiblichen Verankerung in der Welt. Weil wir Leib sind, haben wir Raum, der an Orten ruht.

*1 Gaston Bachelard: Die Dialektik des Draußen und des Drinnen, in: Poetik des Raumes, Frankfurt am Main 1987, S. 211 – 228
*2 Martin Heidegger, “Bauen, Wohnen, Denken” in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 148f
*3 Bachelard, ebda. S. 221

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